Die Redaktion von "psychoanalyse-aktuell" hat einige Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern der "Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung" (DPV) gebeten aufzuschreiben, welche Bedeutung die Psychoanalyse für sie heute habe. Der Beitrag sollte kurz und durchaus mit einer subjektiven Note versehen sein. Wir stellen die Kurz-Beiträge in der Reihenfolge des Eingangs bei der Redaktion vor.
Frankfurt a. M., 4. Dezember 2008
Die Redaktion
Manfred G. Schmidt, Köln
"Die Bedeutung der Psychoanalyse heute"
In Zeiten der immer noch zunehmenden Ökonomisierung unserer Welt hat die Psychoanalyse eine wichtige kontrapunktische Funktion:
- durch die Berücksichtigung von tieferen, unbewussten Sinnzusammenhängen,
- durch die Betonung von längerfristigen menschlichen Entwicklungsprozessen,
- durch unsere Methode, langsam und sehr genau auch Kleinstspuren in zwischenmenschlichen Begegnungen zu beachten und
- durch den konsequenten Versuch, die jeweils individuellen, subjektiven Bedingungen und ihre soziale Einbindung anzuerkennen.
Die Psychoanalyse bietet Räume und Orte der Entschleunigung bei der Begleitung und Interpretation von Prozessen des individuellen Lebensvollzuges an.
Dies gilt sowohl für den Bereich der Behandlung von psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angst- und Zwangserkrankungen, psychosomatische Krankheiten und Persönlichkeitsstörungen als auch für das Verständnis von kulturell-künstlerischen und gesellschaftlichen Prozessen.
Hierbei ist die Methodik der langsamen und auf Kleinstspuren ausgerichteten teilnehmenden Beobachtung des Analytikers ausschlaggebend. Der Analytiker ist immer ein Teil des Geschehens, das er beobachtet
Im klinischen Bereich bilden die nur scheinbar wahllosen "freien Assoziationen" des Analysanden zu seinen Symptomen, Träumen und Affekten allmählich ein Geflecht von Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen, die zu einem neuen und tieferen Verständnis auch der unbewussten Motivationen führen. Dabei spielt die persönliche Beziehung des Analysanden zum Analytiker eine zentrale Rolle. In ihr bilden sich nach und nach fast alle krankmachenden affektiv-konflikthaften Probleme ab (das nennen wir die Übertragung) und dann können sie - sozusagen "vor Ort" und in Zeitlupe - bearbeitet und auch aufgelöst werden.
Es gibt inzwischen große empirische Langzeit-Wirksamkeitsstudien: Aus Schweden die STOPP Studie von R. Sandell (2001), aus England die TADS von D. Taylor (2005), aus Deutschland die DPV Katamnesestudie von M. Leuzinger-Bohleber (2001) und die PAL Studie von G. Rudolf (2001), die die Wirksamkeit der psychoanalytischen Therapie bei einer Vielzahl von psychischen Erkrankungen eindrucksvoll belegen.
Im Diskurs um die Interpretation von Filmen, in der Literatur und in der Bildenden Kunst hat die Rezeption von psychoanalytischen Gedanken und Konzepten stetig zugenommen. Auch in der Beurteilung einiger gesellschaftlich relevanter Phänomene gewinnt die Psychoanalyse wieder an Boden; so aktuell bei der Diskussion über die Bedeutung früher außerfamliärer Betreuung von Kindern.
Durch viele Befunde der neurobiologischen Forschung hat die Psychoanalyse in den letzten zehn Jahren eine unerwartete -allerdings von S. Freud immer erhoffte -Bestätigung gefunden. Dies betrifft u. a. ihr Verständnis von Träumen, Gedächtnis und Erinnerung sowie der Verarbeitung von lebensgeschichtlich traumatischen Erfahrungen.
Literatur:
Leuzinger-Bohleber M., Stuhr U., Beutel M., (2001): Langzeitwirkungen von Psychoanalysen und Psychotherapien. Eine multizentrische repräsentative Katamnesestudie. In: Psyche 55: 193-276
Rudolf G., Grande T., Dilg R. (2001): Strukturelle Veränderungen in psychoanalytischen Behandlungen. Zur Praxisstudie analytischer Langzeittherapie (PAL). In: Stuhr U., Leuzinger-Bohleber M., Beutel M. (Hrsg.): Langzeit -Psychotherapie. Eine Perspektive für Therapeuten und Wissenschaftler. S. 238-259. Kohlhammer, Stuttgart
Sandell R., Blumberg J., Lazar A., Carlson J., Broberg J., Schubert J. (2001): Unterschiedliche Langzeitergebnisse von Psychoanalysen und Langzeitpsychotherapien. Aus der Forschung des Stockholmer Psychoanalyse und Psychotherapieprjekts (STOPP). In: Psyche 55: 277-310
Taylor D. (2005): Klinische Probleme chronischer, refraktärer oder behandlungsresistenter Depression. In Psyche 55: 843-863
Zum Autor: Manfred G. Schmidt, Dr. rer. soc, Diplom Psychologe und Psychoanalytiker in eigener Praxis in Köln. Er war von 2004 bis 2006 der Vorsitzende der "Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung e.V." (DPV).
September 2008