Morbitzer, L. (2022): Sonnyboy. Die Angst vor dem Zusammenbruch.

Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, 162 S., € 19,90

Rezensentin: Martina Feurer (Freiburg)
(Die Rezension erscheint demnächst in der Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis)

Eigentlich hat dieses Buch zwei Autoren. Es beginnt mit dem Behandlungsbericht des Psychoanalytikers Leopold Morbitzer über eine langjährige und hochfrequente Psychoanalyse mit einem Mann, der zu Beginn der Analyse um die dreißig war. Der Titel seines Berichts lautet Die Angst vor dem Zusammenbruch in der Gegenübertragung.
Anschließend erzählt der zweite Autor ‒ unter dem Pseudonym Felix Schreiber ‒ von sich und seiner Psychoanalyse bei Morbitzer. Er gibt seinem Bericht den Titel Aufruhr.
Der Buchtitel Sonnyboy wurde gewählt, weil Schreiber ‒ „Anfang dreißig, blonde Haare, ein freundliches Lächeln“ ‒ in seinem Leben oft so bezeichnet worden war (S.21).
Die Berichte werden von einem Vorwort des Psychoanalytikers Peter Wegner eingeleitet und mit Kommentaren der Psychoanalytikerin Erika Kittler, des Psychoanalytikers und Erzählforschers Tilmann Habermas und des Schriftstellers Karl-Heinz Ott abgeschlossen.
In einem kurzen Zwischenkapitel erklärt Morbitzer, wie der Bericht Schreibers zustande kam. Drei Jahre nach Ende seiner Analyse war Schreiber noch einmal zu Morbitzer gekommen, um ihm mitzuteilen, dass es ihm weiterhin sehr gut gehe.
Morbitzer fragte ihn, ob er damit einverstanden sei, wenn er über seine Psychoanalyse schreibe und Schreiber stimmte nach einer Bedenkzeit zu. Während seiner Analyse hatte er öfters darüber gesprochen, dass er gerne selbst schreiben würde, und so fragte Morbitzer ihn, ob er vielleicht auch selbst über seine Analyse schreiben wolle. Schreiber hatte Lust dazu.

Die Angst vor dem Zusammenbruch in der Gegenübertragung

Noch bevor Morbitzer seinen zukünftigen Patienten über eine psychoanalytische Ambulanz persönlich kennenlernt, wird er vom Ambulanzleiter mit widersprüchlichen Aussagen über Schreiber konfrontiert: Ist der Patient nun ein „idealer Analysefall“ oder überhaupt kein „Analysefall“, da er nicht mehr arbeitet, keine sozialen Kontakte mehr hat und „nur noch Psychoanalyse“ machen will (S. 50)?
Im Erstgespräch wiederholen sich die widersprüchlichen Eindrücke: Schreiber schaut den Analytiker stumm und verzweifelt an. Morbitzer hat das Gefühl, es ist entschieden, dass wir eine Analyse machen, gleichzeitig spürt er Angst vor einem Abwärtsstrudel.
Eine schwere und oft unbegreifliche Angst wird den Analytiker während der ersten sechs Jahre der Analyse dauerhaft begleiten. Begriffe wie „psychotische Entwicklung“, „maligne Regression“ schießen ihm durch den Kopf (S.41). Ein Supervisor findet es unverantwortlich, „eine Analyse mit einem offensichtlich psychotischen Patienten“ zu machen und empfiehlt Medikamente und stationäre Behandlung (S. 53).
Im dritten Jahr entwickelt Morbitzer die bedrängende Phantasie, Schreiber könnte ihm vor der Tür auflauern und mit einem Messer auf ihn einstechen. Über Monate kann er nicht mehr zwischen Phantasie und Realität unterscheiden und schaut vorsichtig um die Ecke, bevor er das Haus verlässt. Erst später wird es Schreiber möglich, seinen Hass, den Morbitzer so stark spürt, auszusprechen: Er wolle sich umbringen, er wolle Amok laufen, den Eltern oder Morbitzer den Kopf einschlagen, „bis alles spritze vor Blut und Gehirn“ (S.55).
Die Angriffe Schreibers steigern sich weiter, der Analytiker fühlt sich wie im Boxring, er schreibt: „[…] im Grunde längst k. o., kann aus eigener Kraft nicht mehr stehen, werde nur noch von den Seilen gehalten, während er immer weiter auf mich einschlägt“ (S. 59).
Im sechsten Analysejahr ‒ Schreiber ist depressiv, verzweifelt und suizidal ‒ fragt sich Morbitzer, ob seine Hoffnung auf Veränderung nicht eher eine Abwehrhaltung ist, um Hoffnungslosigkeit und einem Zusammenbruch aus dem Weg zu gehen. Zum ersten Mal traut er sich zu denken, dass sich vielleicht nie etwas ändern würde, dass diese Analyse ewig so weitergehen würde, in einem endlosen Kompromiss zwischen Leben und Tod.
Morbitzer teilt Schreiber seinen Gedanken mit: Vielleicht war in seiner frühen Entwicklung etwas geschehen, dass weder er selbst noch sie beide zusammen ändern könnten.
Schreibers Antwort lautet, so könne er nicht ewig leben. Nach der Stunde schreibt er seine erste E-Mail an seinen Psychoanalytiker und schließt mit den Worten „ich vermisse Sie sehr“ (S. 67).
Ab diesem Zeitpunkt ändert sich die Analyse. Schreiber weint nun viel, er spricht über seine Einsamkeit, seinen Schmerz, seine Sehnsucht nach Liebe. Parallel zu seiner inneren Entwicklung baut er sich Schritt für Schritt eine Außenwelt auf, findet eine Arbeit in seinem Beruf und verliebt sich.
Der Bericht Morbitzers wird von behandlungstechnischen und theoretischen Überlegungen begleitet. Seine Hauptthese lautet, dass die von Winnicott beschriebene Angst vor dem Zusammenbruch zuerst vom Analytiker selbst in der Gegenübertragung erlebt werden musste, bevor der Patient sich trauen konnte, das Risiko eines Zusammenbruchs in der Übertragung einzugehen.
Am Ende seines Berichts weist Morbitzer darauf hin, dass er zwar eher die dramatischen Momente der Behandlung aufgegriffen habe, es aber auch sehr viele ruhige Zeiten gegeben habe.
Er betont, dass Schreiber selbst die ruhigen Phasen als seine wichtigsten Erfahrungen in der Analyse bezeichnet habe. In diesen ruhigen Momenten habe Schreiber das Gefühl gehabt, dass zwischen ihm und seinem Analytiker „die Wellenlänge stimmt“ (S. 73). Gespürt habe er es daran, dass Morbitzer bereit war, mit ihm über die Bücher zu sprechen, die er las, denn lange Zeit habe er über nichts anderes sprechen können.

Aufruhr

Schreiber beginnt mit seiner Kündigung in einer Kanzlei. Er kann nicht mehr. Die Diskrepanz zwischen seinem innerem Zustand und seiner äußeren Fassade ist zu groß geworden. Eine Therapeutin rät ihm, sich ans Institut für Psychoanalyse zu wenden.
Da er zu Beginn seiner Analyse vergeblich nach Fallberichten gesucht hatte, die seiner Situation ähnelten, will er seinen Bericht auch für diejenigen schreiben, die sich in einer ähnlichen Situation befinden und vielleicht auch eine Psychoanalyse in Erwägung ziehen.
Schreiber berichtet zuerst über den Rahmen seiner Behandlung: die Vierstündigkeit, die Couch, sein eigenes Kopfkissen, die aufgerollte Wolldecke, den Analytiker hinter sich. Dann erklärt er die Methode: „Die Behandlung funktioniert so, dass man sich hinlegt und dem Analytiker erzählt, was einem durch den Kopf geht, also frei assoziiert“ (S. 91).
Er informiert seine Leser auch über die Finanzierung seiner Analyse. Um seinen Lebensunterhalt und die Kosten der Analyse, die über die Krankenkassenleistung hinausgingen, zu bestreiten, habe er die finanzielle Unterstützung derjenigen angenommen „die, wie ich fand, nicht ganz unbeteiligt an meiner misslichen Lage war ‒ meiner Mutter“ (S. 90).
Schnell muss Schreiber feststellen, dass es nicht gerade einfach, sondern eher „verdammt schwer“ ist, all das auszusprechen, was ihm durch den Kopf geht (S. 91). Soll er seinem Analytiker tatsächlich erzählen, dass er die Fantasie hatte, ihm die Spitze seines Regenschirms in den Bauch zu rammen? (Er sagte es ihm.)
Schreiber führte während seiner Analyse ein Traumtagebuch. Einige dieser Träume nimmt er in seinen Bericht auf. So findet sich in einem Traum aus den ersten Monaten die Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit wieder, die er in jener Zeit empfand. Er fühlte einen großen Abstand zu Morbitzer und konnte ihm nicht vertrauen.
Als nächstes musste er entdecken, dass es etwas gab, das noch viel schlimmer war als seine Hassgedanken: sich leer zu fühlen, gar gar keine Gedanken oder Fantasien mehr zu haben. Es war, als ob alles versiegte und er „auf dem Trockenen“ lag (S. 92). Manchmal habe ihn eine vage Ahnung von einem Gefühl gestreift, das unter dicken Sedimentschichten erstickt und begraben war. Dann kam es als blanker Hass zum Vorschein. In seinen Träumen rasten Autos in Menschenmengen, er rannte unter Beschuss durch Kriegslandschaften, er wurde von Killern verfolgt.
Der Hass sei auch deswegen so unerträglich gewesen, weil er seine Gedanken abgestumpft habe. Im Hass habe er sich „unsäglich dumm“ gefühlt, es war, als ob er „vollkommen verblöden“ würde (S. 95). Es habe aber auch immer wieder schöne Momente gegeben, in denen er Hoffnung spürte. Ohne diese Momente hätte er es nicht ausgehalten.
Trotz der großen Distanz und dem fehlenden Vertrauen zu Morbitzer gab es die Verbindung durch Bücher. Und so teilt Schreiber uns nicht nur Ausschnitte aus seinen Träumen mit, sondern gewährt uns auch einen Einblick in die Lektüre, die ihn während seiner Analyse begleitete.
Einmal passierte es ihm, als er gerade ein Buch von Jean Genet las, dass er tief Luft holte und das Gefühl hatte, kopfüber in den Roman zu springen, in ihn einzutauchen, zu einzelnen Wörtern zu schwimmen, die Buchstaben zu betrachten. „Der Moment war perfekt, mein Glück für kurze Zeit vollkommen“ (S.99).
Für kurze Zeit. Die meiste Zeit war von Niedergeschlagenheit und Erschöpfung geprägt. Die Hassphasen wurde zwar kürzer, aber gleichzeitig heftiger, intensiver.
Dann, an einem Donnerstagnachmittag im sechsten Jahr, die letzte Stunde vor dem Wochenende. Schreiber spricht über seine völlige Verzweiflung. Die Antwort Morbitzers, sie müssten sich vielleicht damit abfinden, dass er für immer darin gefangen bleibe. Stundenende. Schwankend, taumelnd verlässt Schreiber den Raum. Das Scheitern ist eine reale Möglichkeit geworden. Irrsinnige Angst und gleichzeitig das Gefühl von Befreiung, Hoffnung.
Er schreibt seine erste E-Mail an Morbitzer, er ruft ihn an. „Eine Schwelle war überschritten; ich fing an, meinem Analytiker zu vertrauen und degradierte ihn nicht weiter zu einem Stichwortgeber für den sich letztlich selbst mit seinen eigenen Worten und Einfällen kurierenden Patienten“ (S.109).
Auch in diesem Abschnitt der Analyse bleiben Bücher ein Verbindungselement zwischen Morbitzer und Schreiber. Morbitzer hatte ihm Donna Tartts Distelfink „einige Wochen zuvor ans Herz gelegt“ und an dem Tag, an dem er die erste E-Mail schrieb, begann er das Buch zu lesen (S. 110).
Der „herzzerreißend traurige“ Roman habe ihm Halt gegeben, er habe viel geweint und gelesen. In den Analysestunden habe es nun so viel zu besprechen gegeben: „Jetzt, da ich die Hilfe meines Analytikers annehmen konnte, brachte ich den Mut auf und kraxelte, langsam aber beständig, in die Tiefe hinab“ (S. 112).

Versuch eines Kommentars (Erika Kittler)

Kittler überlegt, warum und wozu Analytiker und Analysand schreiben.
Die Berichte können als Umschriften gelesen werden, die ‒ so André Green ‒ auf einen unbekannten Ursprung, auf ein unbekanntes Original verweisen. Transkriptionen, die nicht nur vom eigenen Unbewussten, sondern auch von dem des anderen eingefärbt sind.
Der Analytiker sucht nach Worten, um die ineinander verschränkten unbewussten Wechselwirkungen zu erfassen. Er geht den unerkannt gebliebenen Spuren nach, den Resten, die ihm noch nachträglich zu schaffen machen. So ist sein Schreiben auch ein Versuch, sich von der Wirkung des anderen zu lösen.
Auch der Analysand schreibt, um sich aus der Verstrickung mit dem anderen zu lösen, um seine Seite sichtbar zu machen, um sich wieder einzusammeln.
Kittler greift das Konzept des französischen Psychoanalytikers de M´Uzan auf, für den der Analytiker als Double das psychische Funktionieren übernimmt, bis der Patient selbst dazu in der Lage ist. Der Analytiker spricht aus der Position eines Doppelgängers, er ist ein anderer, der sich dem Patienten angleicht, um nicht zum intrusiven Objekt zu werden. So musste auch zuerst der Analytiker in seiner Rolle als Doppelgänger zusammenbrechen, damit die Bedrohlichkeit der Situation für den Patienten nachlassen konnte.
Und können die vielen Bücher, über die Schreiber in den Sitzungen spricht, nicht auch als seine Doppelgänger verstanden werden? Doppelgänger, die zu Übergangssubjekten werden, vertraut und doch fremd, ihm gleich und doch anders.
Für Kittler gelingt den beiden Autoren in ihren Umschriften die Gratwanderung, genau so viel mitzuteilen wie nötig und zugleich niemals Verrat an sich selbst zu üben.

Eine Therapieerzählung aus vier Augen (Tilman Habermas)

Habermas untersucht die unterschiedlichen Erzählweisen der beiden Texte.
Morbitzers Text ist ein Behandlungsbericht und muss mehrere Funktionen erfüllen. Neben einer Qualitätsprüfung in der Aus- und Weiterbildung ermöglichen Behandlungsberichte ein Denken in Einzelfällen, eine Abgleichung mit den eigenen klinischen Konzepten und deren Erweiterung. Einer interessierten Öffentlichkeit bieten sie Einblick in psychotherapeutische Erfahrungen.
Behandlungsberichte sind zwangsläufig Mischtexte. Morbitzer muss theoretische Erwägungen aufnehmen, Argumente und Thesen formulieren. Da Behandlungsberichte zwangsläufig eine Auswahl treffen, können sie nicht beanspruchen, den tatsächlichen Therapieverlauf wiederzugeben. So sind Berichte von Patienten enorm wichtig und hilfreich, um die Analytikerperspektive zu korrigieren und zu ergänzen.
Den Text Schreibers nennt Habermas eine Therapiegeschichte. Schreiber muss keine Theorien einbauen, er ist frei, eine Form des Erzählens zu finden, die ihm entspricht. Schreiber greift auf Träume zurück, berichtet von seinen Lektüren, schildert Eindrücke und skizziert autobiographische Fragmente. Er erzählt poetisch, phantastisch, leicht.
Nicht nur in der Form, auch in den Inhalten unterscheiden sich die Autoren, bis es im sechsten Jahr ‒ in der existenziellen Situation der ausgesprochenen Hoffnungslosigkeit ‒ zu einer Überschneidung kommt. Danach trennen sich Behandlungsbericht und Therapiegeschichte wieder.
Für Habermas entfalten sich die Vorzüge der jeweiligen Textform in ihrer gemeinsamen Veröffentlichung zu einer Sicht aus vier Augen.

Echoräume (Karl-Heinz Ott)

Warum suchen Menschen Zuflucht in der Literatur? Warum können Romane Halt geben, warum können sie sogar als Rettung empfunden werden? Otts erste Antwort lautet: Wenn wir lesen, sind wir nicht allein.
Die Lektüre eines Buchs kann den Leser so sehr mitnehmen, es ist dann, als hätte er eine Menge durchgemacht, er fühlt sich völlig erschöpft.
Ott weist auf die vielen Parallelen zwischen einer Psychoanalyse und dem Lesen hin. „Wir begeben uns in einen Zustand, in dem die Gesetze der Wirklichkeit zwar noch gelten, zugleich aber ein Stück weit aufgehoben sind“ (S. 154).
Der Analysand, der auf der Couch liegt, und der Leser, der auf dem Sofa oder im Bett liegt, sind vom Handeln und Funktionierenmüssen freigestellt. Die Selbstkontrolle kann gelockert werden, innere Welten können auftauchen und Raum bekommen. Ott zitiert Freud, der von einer Patientin sagte, sie habe beim Lesen das Ihre „hinzudeliriert“, und fügt hinzu: „Wir delirieren ständig das Unsere hinzu, ohne dass es uns eigens bewusst wird“ (S. 159).
In Büchern und in einer Analyse darf alles zum Ausdruck kommen, ohne irgendwelche Konsequenzen. Sowohl eine Psychoanalyse als auch die Literatur erzeugen Zwischenreiche zwischen Phantasie und Wirklichkeit, ein „Gewoge der Bilder, Träume und Schimären“ (S.159). Das Undenkbare darf denkbar werden. „Echoraum“ nennt Ott diese Öffnung, die sowohl in einer Psychoanalyse als auch beim Lesen entstehen kann.


Die Rezensentin stand vor dem Dilemma, eine Rezension über ein Buch zu schreiben, :das schon drei Kommentare enthält. Es ging ihr wie Kittler, die sich in Versuch eines Kommentars fragt, was ein Kommentar noch mehr sagen könnte: Es ist doch alles gesagt, die Texte sprechen für sich.
Und so beschränkt sich diese Rezension auf eine Skizzierung der verschiedenen Perspektiven, die das Buch so spannend machen.
Durch den Verzicht auf eine Hauptperspektive ist hier etwas Offenes entstanden, etwas Unabgeschlossenes, das zum Nachdenken über klinische, theoretische, existenzielle und literarische Fragen einlädt.
​​​​​​​Die beiden Berichte und die drei Kommentare fordern jeden Leser auf, eigene Sichtweisen und Kommentare in sich entstehen zu lassen. Auch wenn schon alles gesagt ist.