Was nur erzählt und nicht gemessen werden kann. Einblicke in psychoanalytische Langzeitbehandlungen chronischer Depressionen.

LEUZINGER-BOHLEBER, M., GRABHORN, A., BAHRKE, U. (Hrsg.) (2020). Was nur erzählt und nicht gemessen werden kann. Einblicke in psychoanalytische Langzeitbehandlungen chronischer Depressionen. Gießen, Psychosozial-Verlag.

Rezensentin: Christina Huber

„Was nur erzählt und nicht gemessen werden kann.“ Dieser Titel klingt zunächst nach Restkategorie, einer Art ‚Beifang‘ quantitativ-empirischer Forschung. Andererseits weist er darauf hin, dass Wesentliches einer psychoanalytischen Behandlung  eben nicht quantitativ erfasst werden kann und eröffnet auf diese Weise einen anderen Horizont. Den jener Subjektivität, die unweigerlich einhergeht mit der Begegnung zweier „Psyche-Soma“ ( ein Begriff des britischen Psychoanalytikers WINNICOTT, der den Körper betont als Matrix, aus dem das Seelische in der individuellen Entwicklung nach und nach auftaucht ) und in welcher der  Beobachter  immer zugleich Teil des Geschehens ist. In seinem Buch „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“ hat der Ethnologe und Psychoanalytiker DEVEREUX bereits in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gezeigt, dass der Forschungsprozess immer auch den Forscher verändert.

Ich fühlte mich erinnert an FREUDs berühmt gewordenes Zitat in der Epikrise zur Krankengeschichte der Elisabeth v. R., wo er feststellt, es berühre ihn selbst eigentümlich, dass die Krankengeschichten, die er schreibe, „wie Novellen zu lesen sind und dass sie sozusagen des ernsten  Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren“.

Im ersten Teil des Buches - „Kontext und Einbettung“ - verorten MARIANNE LEUZINGER-BOHLEBER und HEIKE WESTENBERGER-BREUER  psychoanalytische Forschung und die LAC-Studie ( LA ngzeitbehandlungen bei  C hronisch depressiven Patienten ), um die es hier gehen soll, in einem gesellschaftlichen, wissenschaftshistorischen und wissenschaftstheoretischen Kontext. Die Lektüre dieser Einführung ermöglicht einen Einblick in die historische Entwicklung und einen informativen Überblick über aktuelle Spannungsfelder psychoanalytischer Forschung.  „Uns scheint, dass …das Verständnis der Psychoanalyse als kritische Hermeneutik … in der französischen Psychoanalyse und teilweise in lateinamerikanischen …Gesellschaften bis heute stark vertreten ist, während in der angelsächsischen und deutschsprachigen Psychoanalyse eine Auseinandersetzung oder vielleicht sogar eine Anpassung an ein  empirisch-quantitatives Forschungsparadigma in den Vordergrund gerückt ist.“

Dann, spezifischer zur vorliegenden Studie: „In der LAC-Studie haben wir ein breites Spektrum heutiger psychoanalytischer Forschungsstrategien angewandt, indem wir versuchten, dem aktuellen Zeitgeist in der Wissensgesellschaft zu begegnen, ohne uns diesem unkritisch zu unterwerfen und auf die Eigenständigkeit der Psychoanalyse als wissenschaftliche Disziplin zu verzichten.“

Es folgt eine Zusammenfassung von bereits vorliegenden quantitativ-empirischen Ergebnissen der LAC-Studie, einer multizentrischen, methodisch sehr aufwändigen - prospektiven -  Studie zur Wirksamkeit von kognitiv-verhaltenstherapeutischen  und psychoanalytischen Langzeitbehandlungen bei chronisch depressiven Patienten. Überprüft werden sollten also Hypothesen, die zuvor aufgestellt wurden, im Gegensatz zur retrospektiven Auswertung bereits vorhandenen Datenmaterials. Die Erfahrungen mit der - retrospektiv angelegten  - Katamnesestudie der DPV  zu Psychoanalysen und psychoanalytischen Langzeitbehandlungen 2001 , ohne die - das betonen die Autoren - die LAC-Studie allerdings nicht möglich gewesen wäre, hätten gezeigt, dass retrospektive Studien in der Welt der ‚evidenzbasierten Medizin‘ - der Psychotherapieforschung und der Gesundheitssysteme -  kaum wahrgenommen würden. ( Dies obwohl die Katamnesestudie die Wirksamkeit psychoanalytischer Behandlungen eindrucksvoll belegte: Mindestens sechs Jahre nach Beendigung der Behandlungen wurden Patienten und ehemalige Behandler interviewt, ausserdem unabhängige Experteneinschätzungen und Krankenkassendaten erhoben. Über 70 Prozent der Patienten zeigten Besserungen in Symptomatik und Lebenszufriedenheit. Ambulante Arztkontakte, Krankentage und Medikamentenverbrauch gingen deutlich zurück. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion, Kreativität, Arbeits- und Beziehungsfähigkeit nahmen signifikant zu.)

Nähe zum tatsächlichen klinischen Alltag, oft eine Schwäche quantitativ-empirischer Psychotherapieforschung,  war in der LAC-Studie insofern gegeben, als die Behandler allesamt erfahrene Kliniker waren, welche die Patienten von den Krankenkassen finanziert in ihrer jeweiligen Praxis behandelten.  252 chronisch depressive Patienten wurden in die Studie aufgenommen. Nach drei Jahren waren es noch 165 Patienten, also 65%. Diese zeigten in der Selbsteinschätzung große und stabile Veränderungen. Überraschend und entgegen der Hypothesen der Autoren fanden sich kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Verfahren und auch keine Unterschiede  zwischen zufälliger  Therapiezuweisung und Behandlung mit dem bevorzugten  Verfahren. Die von den Patienten gewählte Psychotherapieform wirkte nicht besser als die zufällig zugewiesene.

Chronisch depressive Patienten profitieren also  erheblich von Langzeitpsychotherapien beider - kognitiv-verhaltenstherapeutischer  und psychoanalytischer -  Therapierichtungen. Die Autoren  betonen die Bedeutung dieses Ergebnisses auch insofern, als mit einer wirksamen Behandlung  Einfluss auf die Weitergabe der Depression an die nächste Generation genommen wird. Ich möchte an dieser Stelle ergänzen: Wenn man bedenkt, dass die Depression inzwischen als Volkskrankheit betrachtet werden kann, ist dieses Unterbrechen der transgenerativen Weitergabe nicht ohne Relevanz. Laut Deutscher Depressionshilfe sind derzeit 11,2 Prozent der Frauen und 5,1 Prozent der Männer, das entspricht 5,3 Millionen Bundesbürgern, an einer Depression erkrankt.

Weitere Ergebnisse zur  Langzeitwirkung beider Therapieverfahren stünden noch aus. Vielleicht, so vermuten die Autoren der LAC-Studie in einer Veröffentlichung 2019 in der Zeitschrift Psyche, liegt es in der Schwere der Störung, dass über die Reduktion von depressiven Symptomen hinaus psychische Transformationen im Sinne von weitergehenden Persönlichkeitsentwicklungen und -veränderungen noch lange nach Beendigung der Behandlungen stattfinden und sich zeigen werden. Sicherlich spannend dann die Ergebnisse der beiden Therapieverfahren erneut zu vergleichen.  Weiterführende Untersuchungen seien auch zum Einfluss der Häufigkeit der Behandlungsstunden pro Woche auf die analytischen Therapien geplant.

Sehr fruchtbar fand ich den Vergleich psychoanalytischer Einzelfallforschung des Zürcher Wissenschaftsphilosophen MICHAEL HAMPE, den die Autoren zitieren, mit dem  angelsächsischen Recht, welches  Fälle mit Präzedenzfällen analogisiert: „Systematischen Fallberichten kommt … eine zentrale wissenschaftliche Funktion für die produktive Entwicklung der Psychoanalyse zu: „Sie denkt wie das englische case law in Fällen. Da ist als „Ur-Präzedenzfall“ zunächst die Geschichte von Ödipus. Dann sammeln sich im Laufe der Therapiegeschichte immer mehr Fallgeschichten an: Anna O., der Rattenmann usw. ( Anm.: es handelt sich um Fallgeschichten von FREUD ). Neue Fälle werden dann zu diesen Präzedenzfällen analogisiert.“

Die qualitative klinische Einzelfallforschung, unter die man die im zweiten Teil dieses Bandes zusammengefassten Behandlungsfälle subsumieren kann nutzt die Forschungsmethode ‚Gruppe‘. Es fanden wöchentliche klinische Konferenzen mit systematischer Dokumentation der Diskussionen statt. So entstanden durch Expertenvalidierungen abgestützte narrative Fallberichte.  

Ein unerwartetes Ergebnis der LAC-Studie war es, dass über 80 Prozent der  Patienten in der Studie unter schweren kumulativen Kindheitstraumatisierungen, besonders unter gravierenden emotionalen Frühverwahrlosungen mit entsprechenden Folgen für die psychische Struktur gelitten hatten.

Frühen Traumatisierungen und der Bedeutung der Narration für psychische Transformationsprozesse widmen die genannten Autoren ein längeres Kapitel. Dieser spannend zu lesende und klinisch orientierte  Abschnitt beschäftigt sich auf neue Weise mit der alten Frage, wie das Wiederholen in der Übertragungbeziehung von Patient und Analytiker in einen heilenden Erinnerungsprozess überführt werden kann. Ausgehend von FREUDs Formulierung, dass das Ich ursprünglich ein Körperliches sei, beziehen sich die Autoren auf das aus der Kognitionswissenschaft stammende Konzept der „Embodied Memories“, also von im Körper der Analysanden Präsentem, aber eben nicht Repräsentiertem  - nicht Erzählbarem - oft traumatischem Material,  und dessen Widerhall im Sinne einer als Verkörperung ( Embodiment ) gedachten Gegenübertragung des Analytikers im Behandlungsprozess.  MARIANNE LEUZINGER-BOHLEBER  illustriert  dieses Geschehen anhand einer eigenen beeindruckenden Fallgeschichte von einer chronisch depressiven, früh traumatisierten Patientin.

Verbindungen stellen die Autoren her zu bekannten psychoanalytischen Konzepten wie zum Beispiel dem „szenischen Verstehen“ von ARGELANDER und LORENZER oder dem „Hören mit dem dritten Ohr“ (REICK) und zu einem um die sinnliche Körperlichkeit des Analytikers erweiterten Verständnis der Gegenübertragung (vgl. SCHARFF). Erklärungsmodelle für diese Phänomene, also für das Auftauchen von kreativen Einfällen, für spontane Erkenntnisse zur unbewußten Bedeutung des Verhaltens von Patienten in der Interaktion mit dem Analytiker, finden die Autoren in der Embodied Cognitive Science: Kategorien - gemeint sind hier offene Begriffssysteme zur Strukturierung der erfahrbaren Welt - bildeten sich immer aufgrund sensomotorischer Koordinationen. Entsprechend befinde sich das menschliche Gehirn - und die menschliche Seele - in einem ständigen Prozess der Rekategorisierung von Erfahrungen. Bedeutsam und in dieser Form neu erscheint  mir hier der explizite Einbezug der Körperlichkeit beider Beteiligter, des Patienten und des Analytikers, in die Konzeptualisierung des Behandlungsprozesses.

ULRICH BAHRKE und ALEXA JUDITH GRABHORN stellen anschließend die Methode der

OPD (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik ) - Arbeitsgruppe vor, deren zentrales Anliegen es ist, psychische Transformationsprozesse anhand verschiedener „Achsen“ und „Strukturen“ möglichst interindividuell vergleichbar zu identifizieren und einzuschätzen. In der LAC-Studie hatten die Patienten vor Therapiebeginn, dann ein, drei und fünf Jahre nach Therapiebeginn jeweils ein OPD-Interwiew bei dem gleichen psychoanalytischen Interviewer. Über den studienbedingten Rahmen, die Ergebnisse der klinischen Konferenzen der Behandler  zu validieren,  hinaus entstand in diesen Interviews eine Bindung der Patienten mit haltender und triangulierender Bedeutung an die Interviewer, die sich als hilfreich und entlastend für die Behandlungen dieser besonderen Patientengruppe mit schweren und chronischen Depressionen und damit auch Beziehungsstörungen erwies, vergleichbar einer Patenschaft.

Die traumatische Erfahrung zerstört die narrative Struktur des Erlebens. Dies ist eine wesentliche Aussage des Buches. Die neun psychoanalytischen Behandlungsfälle im zweiten Teil des  Bandes  spiegeln einerseits die Vielgestaltigkeit der Depression wider und sollen die transformierende Bedeutung der narrativen Aneignung und Integration der eigenen Lebensgeschichte illustrieren. Eine generalisierende Konzeptualisierung unbewußter Determinanten chronischer Depression  von BLEICHMAR, in der die einzelnen Fallgeschichten eingeordnet werden können, soll andererseits Gemeinsames erfassen. BLEICHMAR zeigt, wie verschiedene Pfade zu dem zentralen Gefühl der Hilfs- und Hoffnungslosigkeit führen, das die chronische Depression charakterisiert.

Einige der geschilderten Fälle wurden ergänzt durch Beobachtungen aus den OPD-Interviews und OPD-Einschätzungen, welche die Behandlungsergebnisse untermauern.

Auf drei der neun Berichte, die alle auch in ihrer Form sehr unterschiedlich gehalten sind und alle dem Leser einen persönlichen und offenen Einblick in die jeweilige  Behandlung geben, gehe ich nun kurz ein.

Depression und Adoleszenz. Ein Fallbericht aus der Depressionsstudie -  ANNA LESZCZINSKA-KOENEN schildert die analytische Psychotherapie mit einem jungen Mann, Ende zwanzig, die meiste Zeit dreimal wöchentlich im Liegen. Der Patient konnte aus seiner depressiven Stagnation in relativ kurzer Zeit herausfinden und wieder in einen adoleszenten Entwicklungsprozess  eintreten, wobei  es, so nimmt die Analytikerin an, die positive Wechselwirkung zwischen analytischer Behandlung und den progressionsfördernden Erfahrungen in der äusseren Realität sowie Gratifikationen, ermöglicht durch neu gewonnene persönliche Fähigkeiten, war,  die es dem Patienten ermöglichte, sich relativ schnell zu erholen und die zuvor blockierte Entwicklung wieder einzufädeln. Nach zwei Jahren beendete der Patient die Behandlung zeitgleich mit dem Auszug aus dem Elternhaus.  Mit der Bearbeitung ihrer intensiven Gegenübertragungsgefühle auf diesen adoleszenten Trennungswunsch des Patienten - sie schildert sehr offen Gefühle von Ausgeschlossensein und ihre Enttäuschung, dass der Patient ihre Unterstützung ablehnt - konnte die Analytikerin den Patienten schließlich gehen lassen.

„Ich falle immer wieder in ein Loch.“ Aus der Psychoanalyse mit einer traumatisierten Patientin. In diesem Bericht - in einem Zug geschrieben -, der in der Tat wie eine Erzählung wirkt, scheint RENATE FRANKE  auf die gut vierjährige Analyse mit einer Patientin in ihren Fünfzigern nachdenklich zurückzublicken. Weibliche Identität und weibliche Sexualität beschäftigten die Patientin intensiv. Transgenerative  Erfahrungen spielten dabei eine Rolle:  „Fremdes in sich zu integrieren, das von Anfang an da war und aufgenommen wurde, ohne dass es in Worte gefasst war, und das fremd bleiben musste, weil es nicht die eigene Erfahrung war, aber eine traumatisch erlebte, nicht benannte Erfahrung eines wichtigen anderen, …, ist nicht einfach. Es sind Erfahrungen, die mangels Benennung und weil sie von Anfang an da sind, sehr im Körperlichen verhaftet sind,“ schreibt die Analytikerin.

Wenn die Sprache der Abwehr dient. Bericht aus der Analyse eines „Grüblers“. Dies ist mit 650 Stunden in sechs Jahren, zunächst mit vier, dann drei Sitzungen in der Woche, eine der längsten Behandlungen in der Studie. ERWIN STURM ordnet seinen Patienten, zu Beginn der Analyse 41 Jahre alt, in eine Gruppe von Patienten ein, die im Alltag über eine hohe Funktionsfähigkeit verfügen, obwohl sie eine Vielzahl psychischer Symptome aufweisen. Abgrundtiefe Einsamkeit, ein Gefühl nicht richtig im Leben angekommen zu sein und die Unmöglichkeit befriedigende Beziehungen aufzunehmen, kämen hinzu. Der Analytiker fokussiert auf die Kontaktvermeidung des Patienten, die seine existentielle Angst vor dem Selbstverlust verhindern und die Spaltung zwischen dem funktionsfähigen und dem zurückgezogenen Persönlichkeitsanteil aufrechterhalten soll. Er stellt Sequenzen aus der Behandlung dar, etwa den Umgang mit den eindrücklichen Träumen des Patienten. Der Autor zeigt und betont, dass Dauer und Dichte der Analyse für den Behandlungserfolg unverzichtbar gewesen seien. Hier dachte ich an den von WEGNER und HENSELER herausgegebenen Band mit zwölf klinischen Darstellungen langdauernder analytischer Psychotherapien „Psychoanalysen, die ihre Zeit brauchen“.  Auch dort wird anhand des Fallmaterials deutlich, dass eine hohe Stundenfrequenz und  eine ausreichende, oft lange Dauer in manchen Fällen entscheidend sind zur Entfaltung der Potenz der psychoanalytischen Behandlung.

Ich hoffe, das Buch findet viele Leser und ich könnte mir auch vorstellen, dass in den neuen Studiengängen für das Studium der Psychotherapie nach der Reform des Psychotherapeutengesetzes die Arbeit mit Fallberichten wie im hier besprochenen Band auf großes Interesse stößt.